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Sagen und Geschichten

Findelkind des Klosters Haus Escherde

Eine Begebenheit aus dem Jahr 1608 / Erzählt von Rudolf Keseling

Am Morgen des Christtags des Jahres 1608 erschienen in dem evangelischen Damenkloster Haus Escherde der Amtsdiener Andreas Trieseberg und der Knecht Hanns Starke aus Betheln. Im Auftrag des Amtsvogts Hinrich Marksmeier begehrten sie, die Domina Domina (Vorsteherin des Klosters, Anm. d. Red.) zu sprechen. Der Knecht trug in den Armen ein Bündel aus Linnen und weicher Wolle. Während die Beschließerin sich entfernte, um die Domina zu rufen, standen die Männer schweigsam und unbeholfen in der kleinen Vorhalle.

Seitdem das ehemalige Benediktinerinnen-Kloster bei der großen Kirchenvisitation des Jahres 1543 der neuen Lehre des Doktors Martin Luther zugeführt worden war, hatten die Wandbilder aus der Ordensgeschichte, die Betaltärchen und Weihwasserbecken weichen müssen, und die weiß getünchte Wand empfing die Besucher mit frostiger Nüchternheit.

Den beiden Männern war sichtlich nicht sehr wohl in ihrer Haut. Als nun die Domina, gefolgt von mehreren Damen, in der Tür auftauchte und kühl nach ihrem Begehren fragte, dauerte es eine Weile, ehe sie sich klar verständlich ihres Auftrags entledigen konnten.

Vor etwa sechs Wochen, sagten sie, habe der Bethelner Schweinehirt Henning, wie die Frau Domina wohl vernommen, oben im Walde zwischen zwei Buchen ein kleines Kind – sie wiesen auf das Bündel – gefunden und es mit dem Förster Wilhelm Meyers zusammen ins Dorf getragen, wo es seitdem von der Frau Amtsvogtin gepflegt worden sei.

Alle Nachforschungen nach der Mutter hätten aber bisher kein Ergebnis gehabt, es scheine auch nicht so, als ob ein Mädchen aus Betheln oder den Nachbarorten diese Sünder wider ihr eigen Fleisch und Blut begangen habe.

Da nun die Frau Amtsvogtin sich mit ihren sechs Kindern genug plagen müsse, im Kloster hingegen zwölf Damen ohne ein einziges Kind lebten, meine der Vogt, sie würden sich freuen, gerade zum Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus, ein solches Geschenk zu bekommen, das sie als sichtbare Mahnung an Ihn wohl aufnehmen und hegen möchten, als sei es das Kindlein von Bethlehem selbst.

Die Domina, die des Amtsvogts grobe Neigung zu derlei salomonischen Sprüchen, wie er es hieß, gut kannte und auch wusste, dass er dem Kloster gern eine Last zuzuschieben trachtete, wollte schon eine spöttische Absage formen. Da fing das Kindlein in seinem Versteck leise zu weinen an, und der Domina blieben die Worte auf der Zunge liegen.

Schon hatten sich etliche Damen zu dem Bündel gebeugt, es geöffnet und mit den Ahs und Ohs, die Frauen bei solchem Anlass in aller Welt bereithalten, das kleine Wesen begrüßt. Die Domina musste wider Willen über diesen jungfräulichen Eifer lächeln.

So trat auch sie hinzu und nestelte, vielleicht um Zeit zu gewinnen, an den Hüllen. Eine Schleife löste sich, und da sah sie, dass das Kind nicht nur in ein hübsches Gewändlein aus feinem, besticktem Linnen gekleidet war, sondern dass sich ihm auch eine anmutig kostbare Kette aus Korallen und Perlen mehrfach um den Hals schlang.

„Das scheint nicht gerade aus der Krippe gefallen zu sein“, murmelte sie. War es nun diese Erwägung mit dem Hintergedanken eines vornehmen Geheimnisses, war es der Stolz, sich nicht vor dem Vogt mit einem unchristlichen Mangel an Barmherzigkeit bloßzustellen, traf der Gedanke an die Geburt des Erlösers oder eine leise mütterliche Regung den Entscheid, oder fand sich all dies zu bewegendem Grunde zusammen – genug, die Domina wandte sich zu den beiden Männern. Sie befahl ihnen mit kühler Freundlichkeit, dem Herrn Amtsvogt zu sagen, das Kloster danke ihm für die Christfestgabe und werde sich bei passender Gelegenheit erkenntlich zeigen. Dem Kinde solle es im Kloster an nichts mangeln.

Dieses Wort der Domina ging viel mehr in Erfüllung, als sie ahnte. Kaum hatten sich der Amtsdiener und der Knecht entfernt, da brach unter den Damen heller Jubel aus, der sich in einem kleinen Wolkenbruch von Zärtlichkeiten über das Kind entlud. Es wäre wahrscheinlich weder zu Schlaf noch zu Nahrung gekommen, wenn nicht die Domina mit einem Machtwort eingegriffen und jeder der Damen eine vorläufige Pflicht an dem Kinde zugewiesen hätte.

Da liefen sie auseinander, die Wäsche zu säubern, das Bett zu richten, die Milch zu seihen, das Bad zu bereiten und was dergleichen mehr ist.

Wenn natürlicherweise solcher Überschwang auch mit der Zeit nachließ, so verwandelte er sich doch keinesfalls in Gleichgültigkeit, wie es leicht zu geschehen pflegt. Er machte eher einer echteren Form der Liebe Platz, die zwar immer noch zu gewissen verwöhnenden Übertreibungen neigte, sie zugleich aber durch die sehr verschiedenartigen Charaktere der Damen und ihre ebenso verschiedenen Fähigkeiten im Umgang mit Kindern in mancher Hinsicht wieder ausglich.

Vor allem wuchs im Kloster, seitdem der kleine Findling dort Mitte und Antrieb geworden war, ein freierer und fröhlicherer Geist auf, eine geringere Empfindlichkeit und eine größere Rücksichtnahme. Sogar die strenge Domina sah man öfter lachen. So verbreitete das Haus Escherde eine wohltuende Heiterkeit inmitten einer Welt, die in gärender Unruhe lebte.

Um so härter musste es die Klosterfrauen treffen, als plötzlich – es war schon hoher Sommer, und das Kind stand bereits wacker an haltendem Finger auf dicken Beinchen – der Amtsvogt den Findling zurückforderte. Die Domina fuhr selbst ins Dorf, um den Grund zu erfahren, kehrte aber so klug, wie sie gekommen, heim. Es sei Befehl des fürstlichen Amtmanns von Winzenburg; mehr wusste der Vogt nicht.

Also verweigerte das Kloster die Herausgabe und blieb auch gegenüber schriftlichen Drohungen des Amtmanns hartnäckig: Solange kein vernünftiger Grund für das Verlangen vorgebracht werde, würde man das Kind aus dem Kloster, wo es gut gedeihe, nicht in die unbekannten und wahrscheinlich rohen Hände irgendeiner Zuchtmutter geben.

Der Amtmann Simon Barth in Winzenburg hatte für seine Forderung offenbar keinen vernünftigeren Grund als das Recht des gesetzlichen Buchstabens. Das Kind war auf einem Boden gefunden worden, der Winzenburgischer Amtshoheit unterstand, also gehörte es nach Winzenburg!

Der Amtmann war der Gerichtsherr, er hatte den Fall zu untersuchen und, falls man der Schuldigen habhaft wurde, das Urteil zu sprechen; daher gehörte das „Beweismittel“, eben das Kind, in seine Hände!

Doch die Domina war eine nicht minder hartnäckige Widersacherin. Sie begnügte sich nicht mit ihrem barschen Nein. Sie rief die fürstliche Regierung in Wolfenbüttel an, den Streit zu entscheiden. Während diese ihre gründlichen und umständlichen Erhebungen anstellte, lagen die beiden Gegner, Kloster und Amtmann, einander lauernd gegenüber.

Simon Barth wollte um jeden Preis neue Tatsachen schaffen und versuchte, das Kind gewaltsam entführen zu lassen. Aber die welterfahrene Domina hatte Lunte gerochen und Wachen aufgestellt, und so mussten die Winzenburgischen Reiter an verschlossenen Türen umkehren.

Wieder vergingen Monate. Das Kind tat schon die ersten Schritte. Da gelang es der fürstlichen Regierung, Mutter und Vater des Findlings festzustellen. Es waren die Jungfrau Emerentia Koch in Hildesheim und der Schneidergeselle Dietrich Wilkens in Braunschweig, die wohl zueinander, aber nicht vor den Altar gefunden hatten.

In landesväterlicher Fürsorge verfügte man in Wolfenbüttel, das Kind solle vorerst zur Erziehung im Kloster bleiben, jedoch den Eltern übergeben werden, sobald sie die Ehe geschlossen hätten.

Die Nachricht wurde in Haus Escherde mit widerstreitenden Gefühlen aufgenommen. Die Liebe der Damen zu dem Kinde war inzwischen gefestigt genug, um die leise Enttäuschung, dass es nicht einer hochgeborenen Leidenschaft das Dasein verdankte, kaum noch richtig zu spüren. Sie war sogar groß genug, um nachzuempfinden, dass es zu seiner Mutter gehöre, wenn der Gedanke an die Trennung und eine Wiederkehr der kinderlosen Zeit sich auch noch so sehr auf die Herzen legte.

So versammelten sich denn die Klosterfrauen zu einer seltsamen Andacht in der Kirche. In ihrer aller Namen betete die Domina zu Gott, er möge ihnen ihre größte Freude, sein Christtagsgeschenk, wieder nehmen. Doch zuvor solle er den Sinn der Mutter wenden, dass sie ihre Schuld begreife und durch Reue und Liebe dem Kinde eine wahre Mutter werde. Dreimal wiederholte sie das Gebet und schloss mit der Bitte: Nicht unser, sondern Dein Wille geschehe!

Aber Gott musste wohl in den Herzen der zwölf Klosterfrauen mehr mütterliche Kraft gewusst haben, als in dem einen Herzen, unter dem das Kind gewachsen war, noch hätte entfacht werden können. Vielleicht war es ausgebrannt in der Verzweiflung über den Mann, der es nicht festhielt, sondern im Elend verkommen ließ.

Die Urkunden melden nur, dass Dietrich Wilkens der Ehe ausgewichen und ins „Ausland“ gegangen sei, was dazumal mit weniger Schritten getan werden konnte. Und Emerentia Koch starb.

Das Findelkind war Waise geworden. Aber es hatte jetzt zwölf Mütter, die ihm Liebe entgegen brachten.

aus: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, Aus der Heimat, 22.12.1973


Leine los!

In den Jahren 2018/19 regte der KulturKreis Gronau e.V. die Bürgerinnen und Bürger der Ortsteile von Gronau an zu erzählen, was in ihren Augen ihren Heimatort besonders auszeichnet, was ihn außerordentlich und lebenswert macht. Im Rahmen des Erzähl-, Schreib- und Theaterprojektes „Leine los!“ kamen so eine Menge Geschichten und Berichte zusammen, die man in Buchform über den KulturKreis Gronau beziehen kann. Alle Orte, die sich mit Geschichten an „Leine los!“ beteiligt haben, sind an Segelbooten wie diesen zu erkennen. Irgendwo an zentralen Stellen und Plätzen sind sie zu entdecken ...

Beim KulturKreis Gronau e. V. ist die Geschichten-Sammlung außerdem in Buchform erhältlich, darüber hinaus die Übersichtskarte für den „Gronauer Kultur- und Geschichtenpfad“.

Spuren von historischen Produktionsstätten

Klostergut

Schon seit Jahrhunderten wird das Klostergut in Haus Escherde landwirtschaftlich genutzt. Hier kann man mehr über die Geschichte von Kloster und Gut erfahren.

Rothe Mühle

Zu finden: Gronauer Str., zwischen Haus Escherde und Eddinghausen

Zum Kloster Escherde gehörten drei Mühlen.

Die Obermühle – die „Knochenmühle“ – wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaut und lag am sogenannten Jungfern-Teich. Von dieser ist bis heute das schöne Fachwerk-Mühlengebäude Am Mühlenteich 6 erhalten.

Die Mittelmühle bzw. Jungmühle unterhalb des zweiten Mühlteiches wurde 1676 errichtet. Von diesem Komplex steht heute nur noch eine Scheune.

Die Untermühle entstand erst 1726 am Nonnenbach zwischen Haus Escherde und Eddinghausen und ist, etwas unterhalb der Straße gelegen, nicht zu übersehen. Sie wurde in Abstimmung mit der Denkmalschutzbehörde in den vergangenen Jahren von den Bewohnern grundlegend restauriert und gehört zu den Schmuckstücken von Haus Escherde.

Als letzte der drei Mühlen des ehemaligen Klosters Escherde wurde sie im Jahr 1960 außer Betrieb genommen. Wer mehr über diese Mühle erfahren und historische und aktuelle Fotografien betrachten möchte, der wird hier fündig.

Warum diese Mühle aber – wie auch andere Mühlen in Deutschland – Rothe Mühle genannt wird, ist nicht eindeutig belegt. Möglicherweise ist dieser Name durch den Umstand zu erklären, dass der Müller häufig ein verhältnismäßig wohlhabender Mann war, der sich ein Haus mit einem festen roten (Ziegel-)Dach leisten konnte.